LESEPROBE

aus dem Roman „Mit rasierten Beinen spricht sich’s besser!“

 

....

„Moment mal…“, wirft Sarah ein, von der ich weiß, dass sie keinerlei Interneterfahrung hat, da sie alles was das Internet anbelangt zu vermeiden versucht, „Du bist seit heute Nacht wieder aktiv und hast schon vier Nachrichten? Das hat doch Potential!“

„Die Frage ist halt nur für was, Sarah.“, wirft Tine ein.

„Also… wenn ich schnellen, unverbindlichen Sex wollte, könnte ich wahrscheinlich heute noch 3 Dates haben, wenn ich es darauf anlege.“, gebe ich an.

„Im Leben nicht!“, erwidert Sarah.

„Och… ich kann mir das vorstellen.“, stimmt mir Tine zu.

„Alleine die Nachrichten der letzten Stunden bergen schon wieder ungeahnte Möglichkeiten.“, lache ich, „Ich habe mir die Profile der Jungs natürlich angeguckt und was Du da zu lesen kriegst. Unfassbar! Anscheinend ist eine neue Funktion, dass man auch Dates einstellen kann. Also Du schreibst, für was Du jemanden suchst. Ich habe mir ein paar dieser Dates angeguckt. Mein Gott! Und ich dachte, ich bin pervers. Ich bin ja nun wirklich nicht prüde, aber ich frage mich, was stecken da für Typen dahinter und was für Menschen gehen darauf ein? Kommen da überhaupt Dates zustande? Was ich im Internet schon so erlebt habe… Da könnte man Geschichten drüber erzählen…“

„Mach das doch!“, entgegnet Tine, „Da hättest Du doch Material für Dein Buch!“

„Ja klar, toller Vorschlag! Gestern soll ich über meine Exfreunde schreiben und heute übers Internetdating. Das eine ist eine Katastrophe und über das andere weiß man schon alles!“, erwidere ich.

„Naja… man müsste dem ganzen vielleicht etwas mehr Würze verleihen.“, gespannt schaue ich Sarah an, die weiter ausführt: „Du sagst, wenn Du es darauf anlegst, bekommst Du heute noch Dates. Wenn das so einfach ist, dann los! Date!“

„Wie meinst Du das?“, hake ich nach.

„Ich wette mit Dir…“

Tine und ich hängen gebannt an Sarahs Lippen.

„Ich wette, dass Du es nicht schaffst 10 Dates in 14 Tagen zu haben!“, fordert Sarah mich heraus.

Erstaunt schaue ich sie an, überlege, was sie mir da gerade offeriert. Und Ja: Mein Kampfgeist ist geweckt! Nach kurzem Zögern, während dem sich Sarah und Tine bereits über Vor- und Nachteile des Internetdatings austauschen, werfe ich ein:

„Gut! Da gehe ich mit! Das ist ja lächerlich! Natürlich schaffe ich 10 Dates in 14 Tagen!“

 

Date XY, „Planvoll“, Thomas, 39 Jahre, 11.01.2015

 

Aus genau zwei Gründen freue ich mich auf den Kaffee mit Thomas: er wird mich von der Tatsache ablenken, dass mein bester Freund auswandert und er könnte ein weiteres nettes Kapitel im neuen Buch werden. Denn eins wurde mir klar, als ich mir vorhin das warme Wasser der Dusche über den Körper laufen ließ: diese Wette bietet so viel Zündstoff und Material, das muss ich verarbeiten. Die Beine sind rasiert, also kann es losgehen!

Thomas erwartet mich bereits vor dem Restaurant mit dem goldenen M. Noch etwas was ich gelernt habe: wähle einen Ort, von dem Du notfalls innerhalb eines Cheeseburgers verschwinden kannst. Während ich auf Thomas zu laufe, wird mir bewusst, dass er alle Klischees erfüllt, die ich von vornerein in ihn gesetzte habe: sehr penibel und ordentlich. Die Kleidung sitzt perfekt und er macht mit seinen kurzen Haaren und dem ernsten Blick fast schon einen militärischen Eindruck. Genau so stelle ich mir einen Polizeibeamten vor. Nach einem kurzen „Hallo“ bestellen wir uns etwas zu trinken, jeder zahlt selbst, was mir sogar ganz recht ist und suchen uns einen ruhigen Tisch in einer Ecke.

Sofort ergreift Thomas das Wort:

„Also Jule, ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich komme gerade aus einer Ehe, die alles andere als sexuell befriedigend war. Meine Frau kann mit SM nichts anfangen und für mich gehört das dazu. Ich bin devot veranlagt und brauche zum Ausgleich meines Jobs, wo ich sehr dominant sein muss, eine Frau, die in der Lage ist mich zu dominieren.

Ich bin der Ansicht, dass das sexuelle passen muss, damit die Beziehung funktioniert. Stimmst Du mir da zu?“

Was bin ich jetzt dran? Darf ich was sagen?

„Äh… doch, das mit dem Sex muss harmonieren. Nur habe ich halt keinen Sex mit jemanden, der mich auf zwischenmenschlicher Ebene nicht anspricht.“, versuche ich einen Kompromiss zu finden.

„Gut, dann sind wir einer Meinung. Die sexuellen Vorlieben müssen übereinstimmen.“, sagt Thomas mit fester Stimme.

Wir sind einer Meinung?

Ich habe eher das Gefühl, dass mein Kater von gestern Abend gerade sehr laut in meinem Schädel miaut und ich gar nicht zu einer Meinung fähig bin im Moment. Aber ich lass Thomas einfach reden und schlürfe an meinem Schoko-Shake.

„Ich würde da sehr gerne ein paar Dinge abklären, bevor wir ins Detail gehen. Das können wir uns dann ja vielleicht sparen. Einverstanden?“

Noch bevor ich etwas antworten kann zieht Thomas einen zerknüllten Zettel aus seiner Jackentasche und streicht ihn glatt.

„Ich fange mal an und Du sagst einfach Ja, Nein und aktiv oder passiv.“, er zückt einen Kugelschreiber und ich kann über den Tisch hinweg eine Excel-Tabelle mit verschiedenen Spalten erkennen.

„Also…“, beginnt Thomas zu lesen, „Analdehnung? Ja, Nein, Vielleicht? Aktiv? Passiv?“, erwartungsvoll schaut er mich an.

Bitte was? Ich schüttele verwirrt den Kopf.

„Ok, beginnen wir mit etwas einfacherem. Anspucken? Ja, Nein, Aktiv, Passiv?“, wieder sieht er mich erwartungsvoll an.

Bin ich im falschen Film? Liest der mir gerade wirklich eine Liste mit seinen Neigungen vor und denkt, dass er mich abfragen und Haken dran setzen kann? Mein Kopf hämmert, der Restalkohol vermischt sich gerade unangenehm mit meinem Schoko-Shake. Mir ist ein bisschen übel.

„Jule, könntest Du Dich bitte konzentrieren? So schwer kann das ja nicht sein. Ok… hier… Atemkontrolle. Ja, nein, aktiv, passiv? Auch nicht? Hmmm… Schlucken? Also Sperma.“

Ganz trocken entgegne ich:

„Ich schlucke nicht, ich bin vegan.“

Thomas schaut mich kurz irritiert an.

„Wegen dem Eiweiß verstehst Du? Tierische Erzeugnisse und so. Geht ja alles nicht bei uns Veganern.“, kläre ich ihn auf und wundere mich, dass er nicht merkt, dass ich ihn verarsche.

„Ok… dann mache ich da mal ein Kreuzchen bei Nein, oder?“

„Hmmm… verstehst Du sicher, ne? So mit all den Überzeugungen wegen gesunder Ernährung und so. Keine tierischen Produkte. Und Sperma ist ja Eiweiß und fällt deswegen raus.“, sage ich nochmal deutlich und schlürfe an meinem Shake, während ich genussvoll von meinem Cheeseburger abbeiße.

„Ja, ja… da habe ich Verständnis für.“, Thomas macht einen Haken auf seine Liste und mir bleibt fast der Burger beim Versuch nicht laut los zu prusten im Hals stecken, so amüsiert mich das mittlerweile.

Doch es geht weiter: „Was hältst Du von NS?“

„Ganz schlimm mit diesen Nazis. Das kann ich auf keinen Fall unterstützen!“, bekräftige ich vehement.

Thomas stutzt, ist offenbar irritiert, überlegt und sagt dann belehrend:

„Jule, ich sehe schon, Du kennst Dich nicht so gut aus in der Materie. Ich rede nicht von Nazis, ich meine Natursekt.“

Ich weiß ganz genau, was er meint, umso mehr fällt es mir schwer ernst zu bleiben, als ich antworte:

„Ach soooo! Natursekt! Ja, als Veganer unterstütze ich alles was natürlich und Bio ist, aber von Sekt werde ich immer fürchterlich betrunken und dann wird mir übel. Wenn schon Alkohol, dann bitte Wodka, das geht, weil der vegan ist.“, und noch ein herzhafter Bissen vom Cheeseburger.

„Also wieder ein Nein… hmmm… was habe ich denn noch auf meiner Liste?“

Der merkt wirklich gar nichts! Der merkt noch nicht mal, dass ich ihn verarsche!

 

Unglaubliche Dates

 

„Ach Gott… ist das schön…“, auch Sarah kann sich kaum halten vor Lachen als ich ihr von Thomas erzähle, „Und es freut mich, dass Du ein wenig von Sam abgelenkt warst. Noch mehr freut es mich, dass Du da drüber lachen kannst. So wie Du von Deiner kurzen Krise erzählt hast, habe ich mir doch schon Sorgen um Dich gemacht.

Und natürlich stehen wir alle hinter Dir, wenn Du abbrechen möchtest. Aber schade wäre das schon, wenn Du nicht durchhältst… Ich darf ja nichts sagen… aber… was Lilly da gerade plant, wenn Du es schaffst… halte durch, Jule… glaube mir, das lohnt sich.“

„Okaaaayyy… möchtest Du vielleicht mehr dazu sagen?“, neugierig warte ich auf Antwort.

„Möchten, wollen, dürfen… NEIN! Aber Du könntest mir nochmal ein paar von diesen wundervollen Dates vorlesen, hmmm?“, fordert Sarah mich auf.

 

„Na gut… da kam ja doch schon wieder was zusammen. Pass auf:

 

Dreckig, 33 Jahre: Spontan... und versaut
Welche Sie / Paar hätte Lust und Zeit?

Gerne tabuloses Treffen ohne lange Anlaufzeit :)

Bin höflich, standhaft, 22 cm ausgestattet und rasiert...

 

Allein die 22 cm Tatsache lässt mich alles andere vergessen! Und rasiert und höflich ist er – das ist so viel positives, was will man mehr. Dreckig wohl auch, wenn man seinem Namen Glauben schenken darf und dazu noch tabulos ohne lange Anlaufzeit… da ist es mir herzlich egal, ob der noch höflich ist. FICKEN!!!

 

Mein persönlicher Freund heute, ist aber der hier!“, ich zeige Sarah das Foto eine beleibten Mannes mittleren Alters, der sich lasziv auf roten Satinlaken räkelt, die durch Tigerbettwäsche ergänzt werden. Er selbst trägt ein passendes rotes Satinhemd und einen gelben Stringtanga. Ums Bett verteilt stehen Marmorbüsten und Arrangements aus Plastikblumen – das Gesamtbild schreit laut: „Schlechter Swinger-Club aus den 80er Jahren“.

 

Alf, 44 Jahre: Er sucht Sie
1,5 Tage Tantra Workshop

 

Wenn der Typ Tantra kann und das über 1 ½ Tage… Nein! Nein! NEIN! Kopfkino aus! Jetzt! Sofort! Ich hatte da genug Horrorfilme laufen!!!! Bitte nicht noch einer! Will ich mit so jemanden ernsthaft 1 ½ Tage… Nein! Hilfe!“

„Jule, bitte, hör auf… ich kann nicht mehr… ich meine… wer bitte meldet sich da denn… da… ach… das ist so…“, Sarah fehlen die Worte.

„Ja, ich weiß ganz genau was Du meinst. Man schwankt zwischen Lachen, Entsetzen und Bussen, die drohen einen zu überfahren. Die Creme de la Creme ist hier quasi vertreten. Ein Ausbund an Niveau, Freude und Spaß. Ein gelber Stringtanga… Sarah… also… allein der String ist ja schon tragisch, aber warum denn bitte in Gelb? Noch dazu mit dem ganzen roten Satin drum herum. Ich will das nicht, nein, ich will das nicht. Warum muss man das der Menschheit so zeigen? Warum nimmt die niemand auf Seite und sagt: „Duhuuuuu… Stringtangas sind per se schon keine gute Idee und in Gelb… Dududuuuu… nicht machen!“?

 

Auf der Suche nach „nichts“

 

Ich will verdammt noch mal so viel mehr!

 

„Vielleicht bin ich kein glücklicher Single, Sarah, aber ich bin gerade ein sehr zufriedener Single! Und der nächste Mann, der kommt, der muss mit all meinen Facetten klar kommen, sie schätzen, achten, respektieren und lieben können:

 

Das Vollblutweib, das Wildpony, die Diva, das Miststück, die Königin und das kleine Mädchen!

 

Und irgendwann kommt dann schon noch mein Räuber, Pirat und Drachenzähmer! Irgendwann wird mal jemand unter meinem Balkon stehen und „Jule, oh Jule“ rauf rufen, um mir dann Minnelieder darzubieten… oder so…

Doch ich fürchte, den müssen wir erst backen! Und bis dahin?

Bis dahin lerne ich mich einfach selbst noch ein bisschen besser kennen!“

 

Wie konnte es nur so weit kommen,

dass wir uns mit weniger als

Romantik zufrieden geben?

 

 

Tagebucheintrag

 

Ich will alle Schutzhüllen fallen lassen,
alte Masken ablegen und starre Mauern einreißen.
Endlich wieder damit anfangen ICH zu sein.
Mir selbst wieder in die Augen schauen können,
ohne mich vor mir selbst verstecken zu müssen.
Wen siehst DU, wenn Du mich ansiehst?

Glaubst Du, das bin wirklich ich?
Oder ist es nur die Mischung von dem Bild,

das Du von mir hast und der, die ich vorgebe zu sein?
Ich habe das Schauspielern so satt!
Leider bin ich nur so gut darin geworden,
dass ich mich hinter den Fassaden erstmal wieder
selbst suchen gehen muss.
Wer bin ich?
Und wann bin ich zu der geworden,
die ich dachte sein zu müssen?
Der Weg zu mir zurück ist lang und steinig.
Aber ich mag mich nicht mehr in Sackgassen verlaufen,
habe viel zu oft die falsche Abzweigung genommen

und wieder umdrehen müssen.
Bin so lange im Kreis gelaufen,
bis mir schwindelig war.
Doch jetzt gehe ich mit kleinen Schritten voran,
die immer größer werden, weil sie endlich ihr Ziel erreichen wollen: Mich - bei mir ankommen.
Oh ja, es gab viele Tote und Verletzte auf meinem Weg.
Eitelkeiten mussten verbannt werden,
andauernder Schmerz, der nicht weichen wollte.
Verletzungen wollten nicht heilen, brachen immer wieder neu auf,

sind noch da, werden aber langsam blasser.
Ich musste so viel Stolz und Selbstwert herunter schlucken,
dass ich drohte daran zu ersticken.
Ängste ließen mich voller Panik erstarren,
nicht mehr fähig auch nur noch einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen.
Wie oft habe ich all dem nicht mutig die Stirn geboten,
sondern mit geschlossenen Augen einfach gehofft,
dass es vorüber gehen möge?
Wie oft bin ich verzweifelt, gestrauchelt, habe geweint, geschrien - einsam, allein?
Doch ich bin auch immer wieder aufgestanden und weiter gegangen,
habe mich doch nie so recht von meinem Weg anbringen lassen,
manchmal einfach nur weite Umwege genommen.
Und jetzt, wo ich anfange mich selbst wieder zu finden,
weiß ich, dass es all die Kraft, den Mut und die Tränen wert war.
Die letzte Schlacht ist geschlagen -
ich mag nicht mehr kämpfen.
Jetzt, wo ich anfange wieder ich zu sein,
weiß ich, dass ich mich nicht mehr für andere verstellen will.
Ich bin genauso wie ich bin gut -
mit allem was zu mir gehört.
Jetzt, wo ich anfange wieder ich zu sein,
weiß ich, dass niemand mehr in mein Leben passt,
der nicht versucht mich anzunehmen wie ich bin,
wie ich auch versuchen werde ihn anzunehmen wie er ist.
Jetzt, wo ich wieder anfange ich zu sein,
soll mich niemand mehr von meinem Weg abbringen,
sondern ihn mit mir gemeinsam gehen.
Jetzt, wo ich wieder anfange ich zu sein,
komme ich wieder bei mir an.

Kommst auch Du bei mir an?
Jetzt, wo ich wieder anfange ich zu sein,
wird mein Leben gefüllt mit purer Lebenslust.
Jetzt, wo ich wieder anfange ich zu sein,
öffne ich mich neuen Welten und Begegnungen.
Jetzt, wo ich wieder anfange ich zu sein,
weiß ich dass ich liebenswert bin.
Jetzt, wo ich wieder anfange ich zu sein,
weiß ich, dass ich einem "Morgen" mit offenen Armen entgegen laufe,

voller Aufregung, was es mir wohl bringen mag.
Jetzt, wo ich wieder anfange...
ICH ~ SEIN!