Leseprobe zum historischen Kriminalroman von Kerstin Waas

 

Prolog zum Buch: DER FARBENSAMMLER

 

Castell im November 1452

Der Winter kam ungewöhnlich früh in diesem Jahr. Reif verwandelte den Waldboden in einen harschen Teppich. Darauf stampften eisenbeschlagene Hufe in einem Takt, dessen Folge nichts Gutes verheißen konnte. Er verbreitete Furcht unter den Tieren des Waldes. Sie flüchteten eilig in ihre Höhlen und Nester, als könnten sie das nahe Ereignis ahnen.

Edle Jagdpferde schüttelten unwillig die langen Mähnen. Ihre Reiter aber hielten die Zügel fest in den behandschuhten Händen und zwangen sie stillzustehen.

Zum Zeichen ihres Protestes sperrten einige der Rösser ihre Mäuler auf und zeigten die großen, gelben Zähne. Der heiße Atem der temperamentvollen Tiere stieg mit jedem ungeduldigen Schnauben hoch hinauf in die Luft.

Nur ein Pferd stand ganz ruhig inmitten der aufgeregten Herde. Der Wind strich an seinen sehnigen Beinen mit den steinharten Gelenken entlang und fing sich in seinem seidigen Schweif. Den sanft gerundeten Hals wölbte es entspannt, die fein geschwungenen Ohren hingen scheinbar teilnahmslos seitlich herab. Das linke Ohr aber war, fast unsichtbar, nach hinten gerichtet.

Zwischen den jaulenden, bellenden und geifernden Jagdhunden seines Herrn wartete es geduldig auf dessen Zeichen, bereit, schon im nächsten Augenblick loszugaloppieren. Es strahlte diese Ruhe aus, die sonst nur von einem wilden Tier ausgeht, das irgendwo in Deckung sitzt und auf den rechten Moment wartet, seine Beute zu schlagen.

Im Sattel, den Eigenschaften seines Pferdes nicht unähnlich, saß der ältere Sohn des Grafen Wilhelm II. zu Castell. Seine Geschicke würden eines Tages die unsichere Zukunft der Grafschaft lenken.

Doch wer vermochte schon zu sagen, was das Schicksal für den jungen Edelmann bereithielt?

Die Unruhe der übrigen Tiere hatte sich längst schon auf die ganze Jagdgesellschaft übertragen. Jeder, vom einfachen Küchenjungen, über die altgedienten Treiber, bis zu dem mitgereisten Priester, alle warteten sie auf den erlösenden Klang des Hornes. Voll und dumpf würde es den ersehnten Beginn der Hatz verkünden. Doch noch wartete die ganze Meute vergeblich auf das Zeichen.

Eine ganze Weile saß der Adelige schon aufrecht, fast steif, im Sattel seines Pferdes, die krallenartigen Finger hielten angespannt die Zügel fest, während das Ross unter ihm tänzelte und scheute.

Doch irgendetwas, das er nicht benennen konnte, hielt ihn davon ab, das Horn zu blasen. Unsicher schaute der Graf über seine Schulter nach seinem Weib.

Die Gräfin, die oben auf dem Proviantwagen saß, fing seinen Blick auf. Eine feingezeichnete Augenbraue hob sich fragend. Der Graf zuckte mit den Schultern.

Alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Obwohl ihm seine innere Stimme das Gegenteil riet, hob er das schwere Instrument an seinen Mund und befeuchtete sich mit der Zungenspitze die spröden Lippen. Bisher hatte er den Beginn einer Jagd und die magischen Momente kurz davor stets herbeigesehnt, doch heute war alles anders. Am liebsten hätte er nach einem Vorwand gesucht, um nach Hause reiten zu können. Aber das ging natürlich nicht.

Er hörte das Räuspern seines Sohnes, dessen Pferd dem seinen am nächsten war.

Er spürte den irritierten Blick seines Älteren auf seinem Gesicht ruhen. Der Junge versuchte, den Grund seines Zögerns zu erraten.

Endlich, weil er keinen Vorwand für den Aufschub fand, blies er das Horn so kraftvoll, wie es seine Familie und seine Männer von ihm erwarteten.

Kaum schwoll der Laut an, brachen sie in stürmischen Jubel aus.

Die Rösser galoppierten los und nicht nur eines trat übermütig mit der Hinterhand aus. Nur um ein Haar verfehlte das Pferd eines Jägers einen der Treiber. Der Mann war neu und wusste noch nicht, dass man sich besser von den Hufen der Tiere fernhielt, wenn einem sein Leben lieb war. Er wurde kreidebleich, aber niemand achtete auf ihn. Die Männer mussten sich ohnehin schon alle Mühe geben, den Berittenen zu folgen, und so war keine Zeit, sich um den Unerfahrenen zu kümmern.

Die Meute stürmte in wildem Galopp bis zum Waldrand, dort parierten sie ihre Pferde durch und brachten sie erst mit einiger Mühe zum Stehen. Die berittenen Jäger riefen die Hunde zu sich heran und gaben ihnen das Kommando, sich abzulegen. Die dressierten Jagdhunde gehorchten aufs Wort.

Der Jagdführer richtete ein paar kurze Worte an die Treiber. Er mahnte sie, wachsam zu sein und zusammenzubleiben. Er wollte keinen der Männer verlieren, die sich nun mit Stöcken und Steinen bewaffnet, lärmend auf den Weg hinein ins Dickicht machten.

Ihre Aufgabe war es, das Wild aufzuscheuchen und aus der Deckung zu treiben. Es war keine ungefährliche Arbeit, die die Treiber mit ihren Hunden zu verrichten hatten. Schließlich hatten sich die hohen Herren auf ihren Rössern an diesem blassen Wintertag zur Sauhatz eingefunden. Gerade die schweren, gedrungenen Keiler hatten sich in der Vergangenheit als äußerst unerschrocken und wehrhaft erwiesen. Aber auch die Sauen scheuten einen Angriff auf die Menschen nicht, wenn sie ihre Frischlinge mit sich führten. Die Jagd auf diese Kolosse, die bis zum dreifachen Gewicht eines erwachsenen Mannes wogen, hatte schon unzähligen Menschen das Leben gekostet. Daran dachten die tapferen Männer aber nicht, als sie sich ihren Weg durchs Unterholz bahnten. Laut rufend versuchten sie, die Schweine aufzuspüren.

Niemand hätte zu sagen vermocht, ob es wirklich das Gebrüll der Männer oder doch der strenge Geruch nach Schweiß war, den sie verströmten, der eines der Tiere aus seinem Versteck trieb.

Die Sau rannte aus dem Unterholz und die Hunde fingen aufgeregt an zu kläffen.

Sie hatten Fährte aufgenommen und folgten dem flüchtenden Tier auf dem Fuße.

Eine ganze Weile hetzten die Saufinder das Tier quer durch den Wald. Panisch versuchte es, seine Verfolger durch wildes Hakenschlagen abzuschütteln.

Doch es waren zu viele der mutigen Hunde, die sich an seine Fersen geheftet hatten.

Erst als dem Wildschwein die Luft auszugehen drohte, konnten die Männer es einholen. Sie sprangen herbei und versuchten, das müde gewordene Tier in die Enge zu treiben. Sie bildeten einen großen Kreis um ihr Opfer, den sie immer enger zogen. Die Jagdhunde stimmten ein schauriges Geheul an, das den Jägern ihren Erfolg anzeigte. Die Treiber schüttelten drohend ihre Stöcke, um dem Tier zusätzlich Angst zu machen.

Dann ging alles ganz schnell: Die Männer vernahmen die Hufschläge eines Pferdes, das offensichtlich in einem Höllentempo in ihre Richtung raste. Das konnte nur einer der bewaffneten Jäger sein, der heranpreschte, um das Wildschwein so schnell wie möglich zu erlegen.

Das Hufgetrappel wurde rasch lauter und wurde eins mit dem trockenen Knacken der Zweige, die unter den Hufen des Pferdes brachen.

Die Treiber wollten gerade den Rückzug antreten und ihren Kreis um die Beute öffnen, da vernahmen sie einen dumpfen Schlag. Dann nichts mehr. Kein Laut drang mehr an ihre Ohren.

Verwirrt blickten sie einander an, doch auf allen Gesichtern stand die gleiche Ratlosigkeit. Was mochte nur passiert sein, fragen sie sich. Angestrengt horchten sie in den Wald hinein. Doch da war kein Geräusch mehr, das an ihre Ohren gelangte.

Sogar die Sau verharrte regungslos in ihrer Mitte. Endlich vernahmen sie das Schnauben eines Pferdes. Es gab doch noch Leben um sie herum.

Das Wildschwein nutzte die Gunst der Stunde und floh.

Doch niemand achtete darauf, jeder der Beteiligten spürte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.

Einer der Jagdhunde fing zu winseln an und trabte in die Richtung, aus der das Schnauben gekommen war.

Zögerlich folgten ihm die Treiber. Es war ein massiger, schwerer Hund, eigens für die Sauhatz gezüchtet. Das sonst so unerschrockene und zur Kaltblütigkeit erzogene Tier setzte sich auf seine Hinterläufe und fing fürchterlich an zu heulen.

Die Vordersten konnten bald schon erkennen, wessen Pferd es war, das da reiterlos im Wald stand.

Als die Männer den Gestürzten erkannten, der totengleich neben seinem Pferd lag, hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten in das Klagelied des Hundes mit eingestimmt.

Die scharfe Klinge des edelsteinbesetzten Sauspießes glänzte im hellen Tageslicht.

Noch im Sterben hielt der Reiter die neue Waffe fest umklammert.

Sie hatte ihm kein Glück gebracht.